„Lasst es gut sein. Hört jetzt auf. HÖRT. JETZT. AUF!“, brülle ich in die norditalienische Nacht, als ich durch ein verschlafenes Dorf laufe. Es muss drei oder vier in der Früh sein, ich bin allein unterwegs irgendwo im Mittelfeld des 100-km-Laufs beim Ultra Trail Lago d’Orta, kurz UTLO. Die erste schwere Steigung mit 1200 Höhenmetern am Stück ist genommen, relativ problemlos, aber bereits im Regen. Die trockene Nacht, die uns im Briefing vor dem Start in Start- und Zielort Omegna versprochen worden war entpuppte sich nur als trockene Stunde. Dennoch bin ich kurz-kurz unterwegs, und ein Sizilianer glaubt, dass ich aus Norwegen käme.

„HÖRT JETZT ENDLICH AUF“, werde ich nochmals laut, und als ich um die Kurve komme, laufe ich fast in die Arme eines verdatterten Streckenposten, der mich gehört haben muss, aber nichts versteht. Ich entschuldige mich und nehme mir vor, leiser zu sein. Mein Körper, ich weiß das rechte Knie, die rechte Hüfte, der linke Ellenbogen zwicken, aber es ist zu früh um mit dem Ächzen zu beginnen. Mein Herz, ich weiß, dass es in Wien wunderschöne Tage gibt und das Wetter ideal zum Bergwandern ist, doch jammere nicht. Mein Verstand, hör auf mir einzureden, dass es besser wäre, den Event nach 23 Kilometern in Omegna (wo die erste Schleife endet) sein zu lassen, das weiß ich selber auch. Ihr drei, ich habe eine Information für euch: Wir werden diese verdammt nassen 100 Kilometer beenden.

Omegna liegt am nördlichsten Punkt des Lago d’Orta, ist ein verschlafenes Nest mit 15.000 Einwohnern und profitiert touristisch am wenigsten von der Schönheit des Sees, der sich in Nachbarschaft zum Lago Maggiore nördlich von Mailand befindet. Zumindest einmal im Jahr ist High-Life angesagt, wenn die Trailrunner unterwegs sind. „Die Organisatoren genießen einen hervorragenden Ruf, die Trails sind Spitze, die Verpflegungsstellen top, das Panorama von den Aussichtspunkten umwerfend. Da musst du unbedingt einmal dabei sein“, hörte ich in diesem Jahr einige Male. „Morgen werdet ihr die Sonne nie sehen“, sagen uns die Veranstalter, als sie uns um 23 Uhr auf die Strecke schicken.  

Es geht hinauf auf den Mottarone (1460 m), wieder hinunter auf das 200 m niedrig gelegene Omegna, wo ich rund 90 Minuten unter dem Time-Cut bleibe. Es läuft nicht schlecht, der Regen wird indes mehr und mehr und die Trails leiden darunter. Der Monte Mazzocone (1424 m) wird in zwei Stufen erklommen, und wer sich an die Downhills des Pölven Trail bei der Tour de Tirol 2018 erinnert, dem sei gesagt: Im Vergleich zu den Verhältnissen beim UTLO waren diese staubtrocken. Die Pisten bergab sind was für Selbstmörder. Ich stürze nach links und rechts, falle nach vorne und hinten und höre irgendwann einmal auf zu zählen, wie oft es mich in den Dreck haut. Immerhin verletze ich mich nicht weiter, auch schon was, und ich gebe mich ja schon mit wenig zufrieden.

Bei Kilometer 37 ist auf der Alpe Camasca eine der vielen gut ausgestatteten Labestationen eingerichtet. Es gibt kalte und warme Getränke, Suppe, Süßes und Salziges, Fleisch und Käse, Brot und Kekse. Ich nehme, was mich anspringt, halte mich aber an meinen eigenen Ernährungsplan: ein Gel alle 60-70 Minuten, zwischendurch was anderes. Es funktioniert nicht schlecht, auch wenn der Magen zuweilen arg rumort. Was ich nicht bedenke (und 15 Stunden später die Rechnung dafür erhalten werde): Unmerklich kühle ich immer mehr aus, nehme aber keine Suppe oder Tee zu mir. Kurz-kurz zu laufen, wie von Florian Grasel empfohlen, ist prinzipiell keine schlechte Idee – doch ich übersehe einen gewichtigen Punkt. Grasel wäre nach rund 12 Stunden im Ziel gewesen. Ich nicht. Irgendwann, vielleicht schon zu spät, muss ich die Regenjacke hervorholen.

Von der Alpe Camasca hätte uns die Strecke fünf Kilometer und 600 Höhenmeter nach unten führen sollen, und dann wieder über 1000 Höhenmeter hinauf auf den Monte Croce (1640 m). Doch der Kurs ist aufgrund eines über die Ufer getretenen Gebirgsbaches geändert und gekürzt worden, allerdings haben es auch die verbliebenen 400 Höhenmeter im Regen und Nebel in sich. Hinauf rutsche ich mit jedem Schritt zwei Schritte zurück, hinunter suche ich mir Wege durchs Gebüsch um die seifenglatten Trails herum.

Körper, Herz und Verstand haben sich schmollend in eine Ecke zurückgezogen, während ich tatsächlich Richtung Arola in ein, na ja: kleines, Runners High laufe. Den Verpflegungspunkt auf der Alpe Sacchi lasse ich aus, ich weiß, dass neun Kilometer später Drop-Bag, Penne und Bier auf mich warten.

Für die – aufgrund der veränderten Streckenführung – rund 54 km bis Arola benötige ich 13:10 Stunden und liege weit vor dem unveränderten Time-Cut von 20 Stunden. An der Verpflegungsstelle läuft der Schmäh. Ich erkläre den freundlichen Helfern, dass man zu Tisch aufessen muss, soll es am nächsten Tag nicht regnen. „Und jetzt frage ich euch: Wer hat in den letzten Tagen die ganzen Pizze und Pasta-Teller nicht verdrückt?!“ Wir lachen, ehe ich mich ins Zelt begebe, einen großen Teller Penne al pomodoro bestelle (und auch alles verputze), zwei kleine Becher Bier dazu trinke und auch sonst zu Schokolade, Zucker, Bananen greife. Auch wechsle ich das Lauftrikot und sehe mich mit dem Logo des ULT Heustadlwasser auf der Brust jubelnd über die Ziellinie springen.

Bis dorthin ist aber noch ein, sagen wir: weiter Weg. Wir machen positive und negative Höhenmeter ohne Ende, es geht hinunter bis fast zum See, hinauf nach Grassona, hinüber nach Cesara. 14 Kilometer vor dem Ziel steht der letzte Aufstieg an, 650 Höhenmeter auf drei Kilometern hinauf zur letzten Alpe. In der Zwischenzeit ist es wieder pechschwarze Nacht geworden, der Regen ist mal stark und mal sehr stark, immer wieder erschwert Nebel die Sicht. Mir kommt eine Geschäftsidee in den Sinn – Stirnlampen mit Nebelscheinwerfern, aber wahrscheinlich gibt es diese ohnehin schon.

Viel Zeit und Lust, Gedanken schweifen zu lassen, habe ich nicht. Der letzte Anstieg ist nichts für schwache Nerven. Spiegelglatt, für mich ohne (von Erwin geborgte) Stöcke nicht zu bezwingen. Auf versumpften, 50 Zentimeter breiten Pfaden hangle ich mich immer weiter nach vorne und oben und bin froh, dass ich nicht sehe, wo ich im Falle eines Fehltritts landen würde. In dieser Phase bin ich mit zwei anderen unterwegs, Mauro und Gianni geben mir Sicherheit, die Gruppe macht uns in einer gefühlten Extremsituation stärker.

Wir erreichen den höchsten Punkt, doch bis es tatsächlich bergab geht, beschert uns der Weg eine Forststraße mit ständig wiederkehrenden Wellen. „Wieviel fehlt noch?“, fragen wir einen Läufer, der uns zu aufschließt. „Fünf Kilometer.“ Wir müssen es glauben, alle unsere Sportuhren haben den Geist aufgegeben. Der Weg nimmt kein Ende, ich beginne zu frösteln. Die Füße sind dank wasserdichter Socken (mehr oder weniger) trocken (danke, Erwin, für den Tipp!), doch jedes Mal, wenn wir durch einen Gebirgsbach waten müssen, wird mir etwas kälter. Aus dem Frösteln wird Zittern, aus diesem Bibbern. So kalt war mir das letzte Mal vor 30, 40 Jahren vielleicht. Zuweilen fragen meine beiden Kollegen, ob eh noch alles passt, und ich bejahe, „s-s-i, s-s-i, s-s-i“. Körper, Herz, Verstand höhnen: Und, zufrieden? Wir müssen ja dieses Rennen beenden.

Es macht keinen Sinn mehr, aufzugeben. Mehr noch, es besteht eigentlich nicht mehr die Möglichkeit dazu. Die letzte Labe liegt auf der anderen Seite des Berges, zu einem Streckenposten ins Auto setzen will ich mich nicht („tut mir leid, hab keinen Tee dabei, aber es sind nur mehr fünf Kilometer“), und solange ich in Bewegung bleibe, denke ich mir, werde ich nicht erfrieren.

Gefühlte zwei Kilometer später sagt uns der nächste, dass es nur mehr fünf Kilometer sind, und als wir drei am See ankommen, applaudieren die nächsten Stewards: „Nur noch fünf Kilometer!“ Wir rasten fast aus.

Das ULT-Shirt klebt auf meiner Haut, darüber liegt eine Regenjacke, darüber habe ich mir ein langärmliges T-Shirt gezogen. Nein, ich werde nicht kurz-kurz über die Ziellinie laufen, entscheide ich, das wäre zu viel des Guten. Die letzten 14 Kilometer bewältige ich mit einem miserablen Schnitt von fast 21 min/km, doch ich bin froh, es geschafft zu haben. Zu dritt überqueren wir die Ziellinie, und Körper, Herz, Verstand sind auch dabei. Es könnte sich besser anfühlen, als es sich tut, doch ich denke nur an eines: mich zu wärmen.

Kaum dass mir die Erinnerungsmedaille umgehängt worden war stolpere ich ins Verpflegungszelt und trinke rund einen Liter Tee. Noch einmal geht es hinaus in den Regen, in die fünf Minuten entfernte Sporthalle, wo die 140- und 100-km-Läufer und Läuferinnen kostenfrei nächtigen können. Die Duschen führen kein warmes Wasser mehr, also bleibt es dabei, die verkrusteten Dreckspuren von Beinen, Armen und Händen wegzuwaschen und gegen 1 Uhr in den Schlafsack zu kriechen.

Die Nacht ist kurz und unruhig. Mir geht durch den Kopf, was ich erlebt und erlitten habe, und was ich aus diesem für mich extremen Trail gelernt habe. Doch ich bin auch stolz, als 248. von 270 in der Wertung zu sein (207. der Männer) und nicht zu 57 (oder zu den rund 17 %) zu gehören, die ein „did not finish“ verzeichneten. Meine Zeit von 24:41 ist mehr als doppelt so lang wie jene des Siegers Christian Pizzati (12:07 Stunden), Etienne Pillonel aus der Schweiz benötigte als Zweiter 12:48 Stunden. Meine Durchschnittsgeschwindigkeit betrug 4.05 km/h, die Pace 14.48 min/km (siehe Tabelle unten).

Mein Körper ächzt, mein Herz ist hin- und hergerissen, mein Verstand nennt mich einen Trottel. Es sind jene Momente nach dem Lauf, in denen ich sie alle angrinse. Was habe ich euch gesagt? Dass wir das Rennen beenden werden! Und jetzt seid ruhig!

Ein paar Stunden später sitze ich in einem Kaffeehaus am Hauptplatz, trinke drei Cappuccini und einen doppelten Espresso, esse drei Croissants mit Marmelade und eines mit Schokolade (Kostenpunkt: alles zusammen 10 Euro!) und denke mir: So ganz vernünftig war’s sicher nicht, den UTLO 2019 zu bestreiten. Aber es soll ja so schön sein hier, mit einem herrlichen Panorama, mit einer tollen Aussicht auf den See, mit der Möglichkeit, sich im und am Wasser zu amüsieren. Der Lago d’Orta ist einer der schönsten, saubersten und geheimnisvollsten Seen Italiens.

Den UTLO müssten wir vom ULT Heustadlwasser wirklich alle einmal machen, sinniere ich und blicke aus dem Fenster des Cafès.

Es schüttet noch immer.