Der Weg bis hierher
Als ich mit dem Laufen begann, war ein 100 Meilenlauf für mich völlig unvorstellbar. Aber nachdem ich Adharanand Finns The Rise of the Ultra Runners gelesen hatte – seine Reise zum UTMB in Chamonix – war ein Funke entfacht. Nach jedem Ultra, den ich finishte, fragte ich mich, ob vielleicht auch die 100 Meilen für mich in Reichweite sein könnten.
In den letzten zwei Jahren habe ich mehrere erfolglose Versuche unternommen, einen 100-Meilen-Ultramarathon zu laufen:
2023 stand ich an der Startlinie des UTMB, kam aber nicht über Kilometer 90 hinaus – Magenprobleme und ein mentales Tief beendeten mein Rennen.
2024 nahm ich mir dann den VDA in den Pyrenäen vor – sowohl wegen der Strecke selbst als auch wegen der zusätzlichen Running Stones, die meine Chancen in der UTMB-Lotterie erhöhen würden. Das Training lief gut, ich fühlte mich sowohl physisch als auch mental besser vorbereitet. Doch nach nur sechs Stunden wunderschönem Laufen zogen heftige Gewitter auf. Drei Stunden lang liefen wir über ausgesetzte Grate, begleitet von Dauerblitzen und strömendem Regen, bis das Rennen – zu Recht – abgebrochen wurde. Wir wurden mit Bussen zum Start zurückgebracht. Enttäuschend? Auf jeden Fall – vor allem, weil der nächste Tag perfektes Wetter hatte. Aber die Entscheidung war eindeutig richtig. Als Trost bekamen wir am Sonntag einen großartigen 34-km-Lauf auf dem letzten Abschnitt des VDA geboten.
Für meinen dritten Versuch wollte ich 2025 zum UTMB zurückkehren, doch trotz 14 Running Stones hatte ich kein Glück in der Lotterie. Also suchte ich ein Rennen näher an der Heimat – und erinnerte mich an den Istria 100, nur fünf Autostunden entfernt. Ich hatte von Trainingspartnern viel darüber gehört, wusste also in etwa, was mich erwartet. Nach einem soliden Wintertraining und der endlich auskurierten Knieverletzung war ich zuversichtlich: Aller guten Dinge sind drei. Doch zehn Tage vor dem Rennen erwischte mich eine heftige Lungenentzündung. Noch eine Woche vor dem Start lag ich mit hohem Fieber im Bett. Ich startete trotzdem – immer noch hustend – und schaffte es bis Kilometer 66, mit fast 4000 Höhenmetern. Die Trails waren atemberaubend, meine Beine fühlten sich gut an, meine Füße waren in Ordnung – aber meine Lungen nicht. Der Husten wurde in der kalten Nacht schlimmer, und bei Sonnenaufgang zitterte ich und bekam kaum noch Luft. Ich brach schweren Herzens beim nächsten VP ab. Die Sanitäter lobten meine Entscheidung – keiner versuchte, mich umzustimmen.
An diesem Punkt fragte ich mich ernsthaft, ob ich einfach nicht dafür gemacht bin, 100 Meilen zu laufen.
Der Wendepunkt
Nach Istria war klar: Ich brauchte schnell ein neues Ziel. Ich hatte Fitness aufgebaut, Motivation im Überfluss und eine Rechnung offen. Ein kurzer Blick in die DUV-Datenbank brachte mehrere Optionen – aber der Centurion SDW100 in Südengland stach hervor: perfektes Timing, nicht extrem hart (relativ gesehen) und bekannt für seine Verpflegung, Volunteers und die insgesamt gute Stimmung.
Egon Theiner hatte im März begeistert vom Centurion 100 Hills 50K berichtet – das gab den Ausschlag. Ich meldete mich sofort an.
Ich hatte acht Wochen Zeit, meine Form trotz Urlaubs und beruflicher Verpflichtungen zu halten. Mein Plan war einfach: lange Wanderungen unterwegs und mehrere 100-km-Wochen. Ich musste nicht fitter werden – nur das Level halten. Zusätzlich baute ich mehr Krafttraining ein und arbeitete weiter an meiner Ernährung und Flüssigkeitszufuhr. Dieses Jahr hatte ich gelernt, dass ich mehr als meine üblichen 300–500 ml pro Stunde brauche. Daher plante ich, zusätzlich zur verpflichtenden Literflasche noch eine 350-ml-Flasche mitzunehmen.
Inspiriert von David Roches Trainingstipps ergänzte ich Saunaeinheiten und Läufe in der Mittagshitze zur Verbesserung meiner Hitzetoleranz und des Blutvolumens. Ich nahm auch täglich Eisenpräparate – mit klar spürbaren Verbesserungen: lockere Läufe wurden wirklich lockerer und ich erholte mich schneller.
Statt meine üblichen 3-wöchigen Taperingphase reduzierte ich auf nur 10 Tage und baute zwei Wochen vor dem Rennen noch einen harten 1000m-Anstieg mit Abstieg ein, um meine Form zu stabilisieren. Der South Downs Way hat zwar „nur“ 3800 Höhenmeter über sanfte Hügel, aber darunter viele 200m-Anstiege – starke Oberschenkel waren also Pflicht.
Wie viele Läufer finde ich Tapering frustrierend. Obwohl man hofft, sich frisch zu fühlen, fühle ich mich oft träge und voller Phantomschmerzen. Dieses Mal fühlte ich mich aber mental gut, entschlossen, es durchzuziehen, und war entspannt, was die Zielzeit betraf.
Rennwochenende
Der SDW100 findet im Juni statt und folgt fast über die gesamte Länge dem South Downs Way – von Winchester bis Eastbourne. Er ist zu einem Kultlauf geworden und gilt wohl als der größte 100-Meilen-Ultra Großbritanniens, mit 600 registrierten Teilnehmer:innen in diesem Jahr. Mit fast 4000 Höhenmetern war klar, dass es kein Spaziergang wird – aber mit weitgehend einfachem Terrain und weiten Panoramablicken schien es eine ideale Wahl für meinen ersten „Miler“. Das Rennen erlaubt Support-Crews und Pacer – das kam für mich aber nicht infrage, da ich erst am Vortag aus dem Ausland anreiste. Zum Glück war meine Partnerin Susi dabei, um mein Gepäck vom Hotel beim Start zum Zielort zu bringen – und um mich in Eastbourne auf der letzten Runde der Laufbahn anzufeuern.
Die Anreise nach London war deutlich stressiger, als erwartet oder nötig gewesen wäre. Mehrere Zugausfälle und Verspätungen sorgten dafür, dass wir erst mit einer Stunde Pufferzeit am Flughafen ankamen. Ich war entsprechend angespannt – und dann steckte ich auch noch lange in der Sicherheitskontrolle fest (kein EU-Pass mehr …). Von da an lief aber alles deutlich besser: entspannter Flug, entspannte Busfahrt nach Winchester und ein letztes Carboloading bei The Stable, mit hervorragender Pizza, genialen „crust dips“ (warum gibt’s die nicht überall?) und überraschend gutem alkoholfreien Bier.
Unser Hotel gab uns ein kostenloses Upgrade auf eine Suite – nett, bis wir merkten, dass die Klimaanlage nicht funktionierte. Tagsüber waren es 30°C gewesen, und draußen war ein lauter Parkplatz – also konnten wir die Fenster nicht öffnen. Ich habe kaum geschlafen.
Das Rennen
Um 4:30 Uhr packte ich schnell meine Sachen und traf zwei Läufer aus der Centurion-Facebook-Gruppe, die mir freundlicherweise eine Mitfahrgelegenheit zum Start anboten. Richard (leider ein DNF in Washington) und Jonathan (6-facher SDW100-Finisher und mehrfacher 200-Meilen-Läufer) gaben mir auf der Fahrt wertvolle Tipps, worauf ich achten sollte.
Die erste Startwelle mit 300 Läufer:innen war gerade losgelaufen, als ich in leichtem Nieselregen ankam. Das Check-in war schnell und gut organisiert, ich gab meine Dropbags für Washington (Halbzeit) und das Ziel ab und konnte mich dann in einem Liegestuhl unter einem Zelt entspannen, frühstückte ein zweites Mal und versuchte, meine Nerven zu beruhigen, während es draußen weiter regnete. Die Spannung in der Luft war deutlich spürbar.
Ich würde also laufen durch einen ganzen Tag, eine ganze Nacht und hoffentlich irgendwann morgen ins Ziel kommen – aber noch vor dem Cut-Off um 12:30 Uhr. Wer unter 24 Stunden finisht, bekommt eine spezielle Gürtelschnalle – das war irgendwo im Hinterkopf, aber mein realistisches Ziel war einfach: durchkommen!
15 Minuten vor dem Start hörte der Regen auf. Race Director James Elson hielt eine kurze Motivationsansprache und erklärte, dass wir zu Beginn eine Extrarunde durch die „Bowl“, das Startgelände, laufen würden – damit die Strecke wirklich 100 Meilen lang ist. Irgendwann fragte er, wer zum ersten Mal 100 Meilen läuft – ich war erleichtert, dass sich viele andere Hände neben meiner hoben.
Dann kam der Countdown – und los ging’s.
Die ersten Kilometer
Ich lief mit bewusst langsamer Pace los, blieb am Ende des Feldes und versuchte, möglichst entspannt zu bleiben. Meine Strategie: flache Abschnitte und Downhills locker traben, alle Anstiege stramm wandern. Die Vorhersage war heiß, aber mit mäßigem Rückenwind – das konnte auf den offenen Downs vielleicht sogar helfen, die Hitze etwas zu mildern.
Nach zwei Runden durch die Bowl wurden wir endlich auf den South Downs Way entlassen. Das Laufen war perfekt: sanft hügelige Wege, kühler Wind und bewölkter Himmel. Ich blieb in dieser Phase bewusst in einer größeren Gruppe, lief entspannt mit und hörte gerne den englischen Gesprächen zu. Das erste Gatter wurde noch gemeinsam geöffnet – nur noch 94 weitere, die ich dann selbst aufmachen musste …
Der erste Verpflegungspunkt gab den Ton für den ganzen Tag vor: schnell, effizient, unglaublich hilfsbereite Volunteers. Meine Flaschen wurden aufgefüllt, Snacks gereicht, und ich war nach ein paar Minuten wieder unterwegs. Ich schnappte mir ein Wrap mit Erdnussbutter – und merkte mitten im Bissen, dass da auch Marmite drin war. Großer Fehler!
Der folgende Abschnitt war wunderschön – sanfte, grüne Hügel, Trails durch Maisfelder und grandiose Ausblicke auf die Küste und ins Landesinnere. Es lief super, ich konnte ein gutes Tempo halten und kam mit Essen und Trinken noch gut klar – aber es wurde spürbar wärmer, und ich war für jeden Schatten dankbar.
Beim Verlassen des QECP fühlte ich mich stark und motiviert – ich wusste, dass ich mich der Marke „Hälfte der Hälfte“ näherte. Der Gedanke, dass noch 120 km vor mir lagen, war natürlich zu viel, aber solche Mini-Meilensteine helfen ungemein in einem Ultra, und das erste Marathon-Häkchen war ein kleiner psychologischer Sieg. Es folgte ein wunderschöner Anstieg durch ein kühles Waldstück – langsam, aber angenehm.
Rennmitte: Hitze und Erschöpfung
In der nächsten Etappe nach South Harting fand ich meinen Rhythmus zusammen mit einer Gruppe anderer Läufer:innen. Typisch Ultraläufer – das Gespräch kam schnell auf andere Rennen, natürlich auch den UTMB und einige der besten Läufe im Vereinigten Königreich. An einer Stelle standen links und rechts der Straße viele Kinder mit Fahrrädern, offenbar in Vorbereitung auf ein eigenes Rennen. Sie klatschten begeistert, gaben uns High-Fives – für einen Moment fühlte es sich an wie bei einem großen Stadtmarathon, und wir liefen tatsächlich ein Stück schneller - zumindest bis zum nächsten Anstieg!
Dieser nächste Abschnitt war möglicherweise der härteste des gesamten Rennens. Es war unglaublich heiß. Keine Bäume, die Sonne brannte gnadenlos auf den weißen Kreideboden, der das Licht reflektierte – ich sehnte mich nach Schatten und kaltem Wasser. Ich hatte die GPX-Strecke inklusive aller Verpflegungspunkte auf meiner Uhr, wusste also genau, wie weit es bis zur nächsten Wasserstation war – aber das half leider nicht dabei, schneller dort anzukommen.
Bei Cocking hatte ich wirklich mit der Hitze zu kämpfen, und das lauwarme Wasser am Verpflegungspunkt half kaum. Ziemlich erschöpft und niedergeschlagen ging ich durch den Crew-Bereich, als mich jemand vom letzten Auto auf dem Feld ansprach: Ob ich etwas brauche? Sie reichten mir eine eiskalte Wasserflasche und wollten mich zum Hinsetzen bewegen – aber ich war einfach nur dankbar, meine Flasche nachzufüllen und zwei Becher eiskaltes Wasser zu trinken. Sie boten mir sogar Eis an – aber ich war zu überfordert, um daran zu denken, dass ich ein Bandana im Rucksack hatte. Diese kleine Geste hob meine Stimmung enorm. Und 100 Meter weiter kam sogar noch ein Wasserhahn, unter den ich meinen Kopf halten konnte – mein salzverkrustetes Gesicht und meine klebrigen Hände wurden endlich sauber. Himmel auf Erden!
Aber die nächsten 30 Kilometer waren brutal: grandiose Ausblicke, aber harter Kreideuntergrund – und brennende Sonne ohne Unterbrechung. Ich senkte den Kopf und machte einfach weiter. Bergauf ging es immer noch gut im Wandertempo, mit den Stöcken konnte ich Tempo halten – bergab war ich inzwischen aber auf langsames Traben reduziert. Und hier fing ich an, mit der Flüssigkeitszufuhr hinterherzuhinken – ein Fehler, der mir in der zweiten Hälfte noch zu schaffen machen würde.
Washington erreicht man über einen steilen Abstieg, ich hatte nun die Hälfte geschafft, mein Dropbag wartete auf mich, aber es lag noch ein sehr weiter Weg vor mir. Ich packte meine Stirnlampe, eine Ersatzbatterie und ein warmes Oberteil für die Nacht in meine Weste und zog ein frisches Shirt an – das alte war komplett durchgeschwitzt.
Mein Magen meldete sich, und ich war einfach nur erschöpft. Ich nahm mir eine Portion Pasta, schaffte aber nur ein paar Bissen. Dann legte ich mich draußen auf die Wiese, suchte mir eine bequeme Stelle und schlief 15 Minuten. Ob ich wirklich geschlafen habe, weiß ich nicht – aber es war auf jeden Fall eine gute Entscheidung. Ich fühlte mich danach wacher. Insgesamt war ich fast 45 Minuten in Washington – aber ich fühlte mich besser als bei der Ankunft, und die größte Hitze des Tages war überstanden.
Nach Washington folgte – wie nach fast jeder Verpflegungsstation – ein langer Anstieg. Ich kämpfte weiterhin mit meinem Magen und konnte in diesem Abschnitt kaum etwas essen.
Es war nur ein kurzes Joggen bis Botolphs, aber ich wusste nicht, worauf ich Appetit hatte. Schließlich schloss ich mich einem allgemeinen Wunsch nach Tee an – nur um zu erfahren, dass es keinen heißen Tee gab, weil das Wasser noch 20 Minuten brauchen würde. Also blieben wir einfach 5–10 Minuten sitzen und plauderten.
Yuki, ein japanischer Läufer, lag bewusstlos am Boden – es sah so aus, als wäre sein Rennen zu Ende. Doch kaum kam ein Helfer, um nach ihm zu sehen, sprang er auf und lief weiter. Wir sollten uns in den nächsten 12 Stunden noch oft begegnen – am Ende finishte er zwei Minuten vor mir. Dieser plötzliche Energieschub motivierte auch uns andere – nach einem kleinen Becher Cola war ich wieder unterwegs.
In die Nacht
Dann kam ein fantastischer Abschnitt kurz vor der Dämmerung – einer der weniger hügeligen Streckenabschnitte, nur leicht auf und ab, und ich konnte - relativ gesehen - einige schnelle Kilometer machen. Die Nacht näherte sich rasch, und auf dem Höhenrücken zog eine leichte Kühle auf, aber es war noch mild genug für kurzärmlig. Oben am Devil’s Dyke feuerten wartende Pacer uns Läufer an – das motivierte und trieb mich für ein paar Hundert Meter nochmal schneller an.
Als es dunkel wurde, kam ich mit James Oliphant ins Gespräch, einem Läufer aus den USA in meiner Altersklasse, der hofft, nächstes Jahr beim Western States starten zu dürfen. Dafür braucht er hier nur ein Finish – entsprechend motiviert war er und sehr zuversichtlich, dass er es schafft. Wir waren eine recht große Gruppe, die sich für etwa 20 Minuten unterhielt – doch in der Dunkelheit drifteten wir nach und nach auseinander. Jeder fand sein eigenes Tempo, der Blick reduziert auf die wenigen Meter vor unseren Stirnlampen.
Wir hatten den Vorteil einer sehr kurzen Nacht, aber trotz der Hitze am Tag brauchte ich mit Einbruch der Dunkelheit sofort ein langärmliges Shirt. Mit abnehmendem Tempo und kaum Nahrungsaufnahme zog ich nach Mitternacht dann noch meine Jacke über – sehr willkommen.
An der Saddlescombe Farm bekam ich eine süße Tasse Tee, aber ich konnte wieder nichts essen. Dann folgte ein sehr langer Abschnitt mit kontinuierlichem Auf und Ab in der Dunkelheit. Vermutlich war es für die Führenden ein schneller, leichter Teil – aber ich war inzwischen so müde, dass ich mehrfach beim Gehen einschlief, schwankte nach links und rechts, kam aber nie ganz vom Weg ab. Bis ich schließlich in einem Brennnesselfeld landete – das war ein abruptes Erwachen mit brennenden Beinen. Immerhin: auf den Downs war Schlafwandeln relativ ungefährlich – in den Alpen wäre das eine ganz andere Geschichte gewesen!
Als ich Housedean Farm erreichte, schnappte ich mir erleichtert einen Stuhl und eine weitere Tasse Tee. Die Halle war voller schlafender Läufer:innen – viele wirkten, als sei hier Schluss für sie. Paul, der neben mir saß, sah ähnlich erledigt aus. Doch ein Volunteer kümmerte sich rührend um ihn, munterte ihn auf, und nach 10 Minuten ging er weiter. Er bekam auch einen „magischen“ Ingwerkeks – ich ergatterte die Hälfte davon. Für mich war er allerdings nicht so magisch, denn ich musste sofort rauslaufen und mich übergeben. Aber ich schaffte trotzdem eine zweite Tasse süßen Tee – das schien den Magen etwas zu beruhigen.
Im Dunkeln - jetzt wirklich motiviert, denn es war weniger als ein Marathon bis zum Ziel – überwand ich den nächsten langen Anstieg hinauf. Ich holte Rebecca ein (wir hatten uns schon mehrmals gegenseitig überholt) und ein Volunteer an der Straßenquerung lobte unser Tempo – das tat gut.
Der letzte Abschnitt
Der Rest der Nacht verging recht schnell, obwohl es manchmal ziemlich unheimlich war – vor allem beim Durchqueren von Kuhherden mit leuchtenden Augen im Stirnlampenlicht. Einige Läufer:innen warteten sogar am Rand, bis sie Gesellschaft hatten, um durch die Herde zu gehen. Kurz nach Sonnenaufgang erreichten wir die berüchtigte „Yellow Brick Road“: eine etwa 2 km lange, gelbliche, steil abfallende Betonstraße, die direkt von den Downs hinunterführt – ein echter Quad-Killer. Ich war nun weitergelaufen als je zuvor, aber mit dem Sonnenaufgang kam ein zusätzlicher Energieschub, und ich schaffte es sogar, ein paar Läufer zu überholen auf dem langen Weg hinein nach Southease. Die Fußgängerbrücke über die Bahnlinie zum Verpflegungspunkt war eine letzte Tortur – aber ich wurde mit einer weiteren Tasse Tee, einem bequemen Stuhl und ein paar Chips belohnt. Ich wechselte auch wieder mein T-Shirt an, da es nun rasch wärmer wurde.
Der Aufstieg aus Southease gilt als einer der härtesten Abschnitte des gesamten Rennens. Meist nicht besonders steil, aber mit unzähligen kleinen Anstiegen und „falschen Gipfeln“, die sich ewig zogen – und zu diesem Zeitpunkt war für mich sowieso nichts mehr „laufbar“. Aber ich wanderte zügig mit Rebecca, und das Gespräch half, die Zeit und die Höhenmeter vergehen zu lassen. Oben genoss ich den Ausblick auf die Küste, bevor es in den langen Abstieg nach Alfriston ging. Der Checkpoint dort war hervorragend – sowohl in Sachen Verpflegung als auch Motivation. Ich habe in meinem Leben noch nie so viel Tee getrunken wie an diesem Tag! Jetzt waren es nur noch etwa 15 km und zwei große Hügel – ich wusste: Ich werde finishen.
In Jevington lief ich direkt durch, ohne am letzten VP anzuhalten, und stieg entschlossen den „letzten“ Hügel hinauf – der zum Glück zwar lang, aber tatsächlich an einem Sattel endet und nicht weiter zu den noch höheren Gipfeln links und rechts führt. Der Anblick des Trig-Points und des Panoramas auf Eastbourne war eine riesige Erleichterung: der letzte Anstieg war geschafft.
Der letzte Abstieg – Eastbournes berüchtigte „Gully of Doom“ – ist schmal, technisch und gefürchtet von vielen. Für mich war er ein Geschenk: flüssig, verspielt, genau mein Terrain.
Die letzten 3–4 Kilometer auf Asphalt und Radwegen durch Eastbourne zogen sich endlos hin. Ich ging den größten Teil davon – der Plan, hier zu laufen, scheiterte nicht nur an müden Beinen, sondern auch an einem klassischen Ultra-„Lean“: Ich kippte leicht nach rechts aus der Hüfte, was Laufen noch schwieriger machte. Trotzdem überholte ich noch vier oder fünf andere, denen es noch schlechter ging.
Endlich erreichte ich das Stadion – dort wartete meine Freundin mit einem riesigen Empfang, hüpfte und jubelte, als ich ankam. Ich bekam eine Umarmung – und konnte das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht wischen. Ich wusste schon seit Stunden, dass ich dieses Mal finishen würde – aber wirklich auf der Bahn zu sein, war ein emotionaler Dammbruch. Ich musste noch die letzten 400 m auf der Bahn „joggen“ – so tun, als wäre ich noch ein Läufer – und dann war es geschafft. Ich erhielt meine 100-Meilen-Gürtelschnalle und wurde von den Volunteers herzlich beglückwünscht – fast noch besser war allerdings das eiskalte Bier und der Stuhl, auf dem ich sitzen und die nächsten Finisher anfeuern konnte.
Ich belegte Platz 320 von 532 Starter:innen. 127 kamen nicht ins Ziel. Sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen wurden neue Streckenrekorde aufgestellt – es war also sicher ein eher „leichtes“ Jahr, aber ich war absolut glücklich mit meinem Ergebnis!
Beim Duschen entdeckte ich vier schwarze Zehennägel – aber ansonsten war ich überraschend fit. Beim Blick auf meine Schuhe stellte ich allerdings fest, dass die Sohle durch die scharfen Steine komplett abgeschliffen war – sie landeten direkt im Müll.
Es war ein großartiger, hart erkämpfter Zieleinlauf nach drei gescheiterten Versuchen. Alles daran – die atemberaubende Landschaft, das Centurion-Team und die Volunteers, die anderen Läufer:innen, die Herausforderung, die Distanz und die Hügel (habe ich die Hügel schon erwähnt?) – alles zusammen machte dieses Erlebnis unvergesslich.
Wird es ein weiteres 100-Meilen-Rennen geben? Mit ziemlicher Sicherheit.
Aber im Moment genieße ich erst mal dieses hier ein wenig länger.
All Photos with Centurion Logo c/o Pierre Papet